Baltic Sea Circle 2017. Im Wartburg 353 um die Ostsee.
Drei Zylinder. Zwei Männer. Ein Ziel. Im Wartburg 353 um die Ostsee.
Nachlese: Baltic Sea Circle 2017. Die lässigste Tour des Jahres. 16 Tage hellwach im wilden Ritt um die Ostsee. 10 Länder im Wartburg 353. Zehntausende von Bilddateien sind durchforstet. Wir wollen mit Euch nochmals die geilsten Wochen des Sommers 2017 durchreisen.
Juni 2017: Wir sind bereit für das nördlichste automobile Abenteuer des Planeten. In der gut bepackten caprigrünen DDR-Reiselimousine und der Nummer 26 starten wir am 17. Juni in Hamburg. Mit dem Baltic Sea Circle knattern wir als Team „Zweitakterz Süd“ an den nördlichsten Zipfel des Kontinents: Das Nordkap. Wir freuen uns auf holprige Straßen, weiße Strände, tiefe Fjorde, robuste Nadelwälder, die unglaubliche skandinavische Natur, Russland, die Baltischen Staaten und Polen. Wir freuen uns auf eine einmalige Rallye-Atmosphäre zur Sonnenwende mit Mittsommer am Polarkreis und „Weißen Nächten“. Schlafen kann man ja im Winter wieder. Wir freuen uns vor allem auch auf tolle Leute in den Städten und Orten, durch die wir reisen werden, und auf unvergessliche Momente zusammen mit den anderen Teams.
Eine Rallye, wie sie außergewöhnlicher nicht sein könnte – ohne Fokus auf Geschwindigkeit aber mit teilweise sehr herausfordernden Aufgaben entlang der Strecke. Das Fahrzeug darf nicht jünger sein als 20 Jahre und in der Anschaffung maximal 2500 € kosten. GPS-Navigationsgerät und Autobahnen sind tabu. Unglaubliche 250 verrückte und festentschlossene Rallye-Teams treten an, um mit ihren Old School Wagen und Youngtimern das Unmögliche möglich zu machen. Die Rallye ist auch eine gemeinnützige Veranstaltung. Die Wochen im Wartburg werden ein Abenteuer sein, welches wir sicher ein ganzes Leben nicht vergessen werden. Schön, wenn auch andere es nicht mehr vergessen. Die Grundidee der Rallye ist es, mit Spendengeldern die Welt ein bisschen besser zu machen. So sammeln wir im Rahmen des Baltic Sea Circle Spendengelder für Charity-Projekte. Für unsere Spendenpartner – der Anna e.V. – Unterstützung krebskranker Kinder in Aichtal und der Sage Hospital e.V. – kommen sagenhafte 1212 Euro zusammen. Vielen Dank!
Was für eine unwirkliche Nacht. Wir stehen mit unserem Wartburg 353 mit weit über Hundert alten Autos im Stau – am Nordkap, dem nördlichsten und eigentlich einsamsten Ende unseres Kontinents, stundenlang. Es ist 2 Uhr nachts und trotzdem taghell. Es ist Ende Juni und eigentlich schon Sommer, und doch sind wir wir – bei Temperaturen um den Gefrierpunkt – in dicke Wintermontur mit Daunenjacken, langen Unterhosen und Wollmützen gepackt. Die Mitternachtssonne legt sich über eine einzigartige kühle und windige Landschaft. Es ist eine traumartige Kulisse und wahrlich surreale Atmosphäre.
Die Blechlawine will zur berühmten Globusskulptur, wo Erinnerungsfotos geschossen werden sollen. Fahrzeug für Fahrzeug. Und das dauert eben. Es ist der siebte Tag der Baltic Sea Circle Rallye. Natürlich ist das Monument normalerweise nicht mit Fahrzeugen erreichbar. Da die ‚Nordkapphallen‘ ihren Ausstellungs- und Shopbetrieb um 1 Uhr nachts schließen, war irgendwie und ausnahmsweise dieser unvergessliche Zugang möglich.
Der Baltic Sea Circle ist ein einzigartiges Abenteuer für Freunde von Old School Fahrzeugen, ein mindestens 7.500 Kilometer langer „wilder Ritt um die Ostsee“. Er ist weder eine konventionelle Rallye noch eine geführte Reisetour. Stattdessen gilt es für die Teams, sich ohne GPS, sondern nur mit Karte und Kompass ausgerüstet, auf den Weg über Landstraßen zum nördlichsten Zipfel Europas, dem Nordkap, zu machen. Die skandinavische Natur, Russland, die Baltischen Staaten, weiße Strände, tiefe Fjorde und holprige Straßen garantieren ein außergewöhnliches Erlebnis. Die Vehikel sind mindestens 20 Jahren alt. Jedes teilnehmende Team muss zudem 750 Euro Spenden für Charity-Projekte sammeln. Die Hälfte der gesammelten Spenden fließt in Projekte, die von den Veranstaltern ausgesucht wurden. Wem die andere Hälfte der gesammelten Summe zugutekommt, entscheiden die Teilnehmer selbst. Die Rallye wird vom Superlative Adventure Club organisiert.
Eine Facebookwerbung machte uns auf die Veranstaltung neugierig und es dauerte keine 24 Stunden bis die Teilnahme beschlossene Sache war. „Das wird der Roadtrip unseres Lebens! Das sind wir mit dabei!“ Es war schnell klar, mit welchem Gefährt es Richtung Norden gehen sollte. Ordentlich Platz soll es bieten, komfortabel und einfach ‚cool‘ sein. Wir starten im Wartburg 353, keine Frage! Beide Piloten sind wir seit vielen Jahren leidenschaftliche Wartburgfahrer und Gründungsmitglieder des Vereins Zweitakterz Süd e.V. Reng-teng-teng! Immer dem Zweitakt nach, mit Freilauf und blauer Fahne, die unüberriechbar aus dem Auspuff weht. Drei Zylinder, 992 Kubik. Unser 1985er Wartburg ist noch ein Mittelkühler-Zweitakter und im Prinzip eine Auto Union Vorkriegskonstruktion. Am Steuer des Wartburg fährt man auf sofaweichen – wunderbar wohnzimmerbraunen – Sitzen und mit Lenkradschaltung fast automatisch in eine andere Welt und bestimmt gelassen um die Ostsee. Die typische Lackierung im frühlingsfrischen „Caprigrün“ beschert unserem Flitzer schon bald den Spitznamen „die grüne Biene“.
Im Vorfeld der Tour gab es so einiges an Vorbereitungen zu machen. Die Winterpause 2016/17 gilt einerseits dem Auto, andererseits werden Internetauftritt, Spendenaktionen und Sponsorenanfragen gestartet. Gleichzeitig wird die Vorfreude Woche für Woche größer.
Sämtliche Verschleißteile(Bremsen, Stoßdämpfer, Radlager…) werden in fleißigen Schraubersamstagen und -sonntagen überprüft oder ersetzt. Ja, und mal eben wird auch noch ein neu regeneriertes Zweitaktherz eingebaut. Dem alten Motor trauten wir die große Tour dann doch nicht mehr zu, was sich bei der Demontage dessen als die richtige Entscheidung erwies.
In einer achtstündige Beklebungsaktion kommen neben den Logos unserer Sponsoren und Unterstützer auch die Namen unserer beiden Charity-Partner – der Anna-Verein und das Sage-Hospital – gut sichtbar aufs Fahrzeug. Die Sticker stehen der grünen Biene ausgesprochen gut, und mit den neuen historischen Zusatzscheinwerfern präsentiert sich der Wartburg ganz schön stolz, fast wie ein richtiges Rallyeauto… Die Rückbank wird ausgebaut und das Ersatzrad dort beladungsoptimal platziert.
Im Juni ist es dann so weit: Alles, was für wichtig erachtet wird, wird eingeladen: zwei Lichtmaschinen, zwei Unterbrecher-Zündungen, ein Zylinderkopf, jede Menge Kleinkram wie Kabel, Zündkerzen, Thermostat, Kerzenstecker, Zündspulen, Lampen und Werkzeug. 25 Liter feines Addinol Zweitaktöl und die obligatorische „Wagener Ersatz-Windschutzscheibe“ gehen ebenfalls mit an Bord.
Unsere erste Etappe ist eigentlich schon die Anfahrt in die Hansestadt. Gut bepackt werden die 700 km von Stuttgart nach Hamburg gelassen geknattert.
Das große Abenteuer für 250 Teilnehmerfahrzeuge beginnt dann am Samstag, den 17. Juni am Hamburger Fischmarkt. Alles passt: bestes Wetter, klasse Stimmung und ein kunterbunter Fahrzeugmix. Wir entdecken einige richtig coole Hingucker inmitten des youngtimerlastigen Teilnehmerfelds: Fiat X 1/9, Audi 100 C2, Kadett B Caravan, Rekord E, Amazon Kombi, …. Zwei Trabanten verstärken zudem die Zweitaktpräsenz.
Mit der Startnummer 26 – und mit defektem Tacho – rollen wir von der Rampe und wählen den Landweg über Dänemark gen Norden. Wir fahren in der fröhlicher Gruppe mit unseren Stuttgarter Stammtischkollegen der Teams „Rotzaffa Racing“ im Volvo 850 und „Old Schmetterhands“ im Volkswagen T4-Bus. Unsere Fangemeinde zu Hause kann unseren Standpunkt über den offiziellen Tracker des Veranstalters jederzeit live mitverfolgen.
Wir sind in Schweden und geniessen die Etappen. Pro Tag fahren wir um die 600 km. Das anfängliche „Oh Mann, wie lange dauert das noch?“ weicht sehr bald einem „Ist der Tag schon zu Ende?“. Wild Camping in unvergleichlich schöner Natur ist angesagt. Dazu gehören Feierabendbierchen in netter Runde. Der Gaskocher befeuert abends mitgebrachte Würste aus Thüringen oder Köttbullar aus dem lokalen Tankstellensupermarkt, und morgens stärken Müsli, gemahlene Hanfnüsse und Pulverkaffee die Piloten. Gebadet wird im See, wo denn sonst?
Unter den zahlreichen touristischen Highlights während der Tour ist der wilde Autofriedhof in der Nähe der Ortschaft Ryd im südschwedischen Småland ein ganz aussergewöhnlicher Stopp. Weit über einhundert Autowracks aus einem halben Jahrhundert rosten und rotten hier vor sich hin. Für den Altautofreund sind das Gänsehautmomente und ein absolutes Muss auf jeder Schwedenreise.
Am dritten Tag will die grüne Biene nur auf zwei Töpfen laufen. Das ist eigentlich kein untypisches Wartburgphänomen. Also gilt es, die Lage zu checken und gegebenenfalls das ein oder andere Teil zu tauschen: hmmmm…. Zündspulen, Kabel, Kerzenstecker und Kerzen – alles in Ordnung. Wir müssen feststellen, dass ein Defekt an der kontaktlosen Zündanlage das Problem verursacht. Zum Glück haben wir ja zwei – leider nicht vorab eingestellte – Unterbrecher-Zündungen für alle Fälle mit an Bord. Das Frontmittelteil wird abgebaut, die Werkzeugkisten werden ausgepackt und der Blutdruck steigt. Bei praller Sonne gilt es, die Situation zu meistern. Die Einstellarbeiten am Strassenrand erweisen sich allerdings als schwieriger und zeitaufwendiger als gedacht, so dass wir die Kollegenteams ohne uns auf die Weiterfahrt schicken und uns entschliessen, den Wagen in eine Werkstatt in der Nähe bringen zu lassen, um dort in Ruhe die Problembeseitigung in Angriff zu nehmen. Während des stundenlangen Wartens auf den Abschleppwagen erreichen uns besorgte Meldungen unserer Freunde zu Hause, die sehen dass der Live-Tracker „hängt“. Uns wird der Kontakt zu einem schwedischen Wartburgfahrer im vom aktuellen Standort in Fanthyttan 150 km entfernten Insjön hergestellt. Dort gebe es sogar eine Werkstatt unter „ostdeutscher“ Leitung mit Wartburgerfahrung. Da Telefonate an verschiedene Werkstätten im Pannenumkreis wenig erfolgversprechend waren, entscheiden wir uns, den Abschlepper auf eigene Kosten nach Insjön zu schicken. Wenngleich der ADAC diese Leistung zunächst abgelehnt hatte, wurden die entsprechenden Aufwendungen im Nachgang dann doch großzügig und kulant erstattet.
Eigentlich ist der Dienstag der Tag mit der traditionellen „Surströmming Drive Challenge“- ein intensiv faulig riechender Hering muß als berühmt-berüchtigte „Task of the Day“ über 200 Kilometer im Auto mitgenommen werden. Wir haben allerdings eine andere Agenda. Nach einem Abend im beschaulichen Insjön bei syrischer Pizza bringen wir unser Auto am Folgetag nach mehreren Versuchen in der Werkstatt gemeinsam wieder zum Laufen. Um 14.45 Uhr geht es dann wieder auf Tour. Wir verkneifen uns vorerst noch jegliche Meldung an Familie, Freunde und an die Community im Netz. Erst einmal gilt es, Kilometer zu machen. Das Wartburgherz klingelt am Berg und unter hoher Last – ist aber mit gelegentlichem Choke-Einsatz dann doch gut fahrbar. Wir checken die Lage: Wir müßten am Folgetag gegen 7 Uhr im fast 1100 km entfernten in Bodø in Norwegen sein, um dort rechtzeitig die Fähre auf die Lofoten zu erreichen. Ja, das kriegen wir hin! Das packen wir! Durchfahren, also fahren, tanken, Kaffee holen, fahren, tanken, Kaffee holen, fahren,…. Der Wartburg läuft durch die taghelle Nacht. Die Sonne geht nicht unter und küsst nur kurz den Horizont. Wir erreichen die Region Arjeplog am Polarkreis in Schwedisch Lappland mit ihren beeindruckenden gebirgigen Archipelen. Um 3 Uhr sind wir nunmehr alleine auf den Strassen auf über 750m Höhe und bei eisigen Temperaturen unterwegs. Bald erreichen wir die Grenzstation zu Norwegen. Wir stehen schliesslich um 7:20 Uhr frühmorgens im Fährhafen von Bodø. Das waren 15 1/2 Stunden Fahrzeit. Wir sind kaputt und glücklich zugleich, die grüne Biene hat es geschafft… Ticket lösen, und der Wartburg darf auf die Fähre rüber nach Moskenes. Auf dem Schiff treffen wir zur großen Freude auch wieder unsere Partnerteams.
Die Lofoten sind eine Naturlandschaft der Superlative mit tollen Sandstränden, wildzerklüfteten Küsten und Fjorden, glasklaren Seen, Flüssen und Inseln. Jede Kurve ist ein Erlebnis und jeder Winkel ein tolles Fotomotiv. Das Archipel ist nicht nur ein geographischer Höhepunkt, sondern auch das erste große Zwischenziel der Rallye. Es ist „Arctic Circle Party Time“. Die Rallyefahrer kommen zusammen und feiern die Sommersonnwende am Strand bei Lagerfeuer, Bier und mit einem kühnen Sprung ins eiskalte Polarmeer. Geile Sause. Beste Stimmung. Es wird nicht mehr dunkel – aus Vernunft kriechen wir dann doch irgendwann ins Zelt. Es ist verdammt frisch. Und die Daunen im Schlafsack machen einen sehr guten Job…
Die Reise geht nun einfach immer Richtung Norden, Norden, Norden. Wir passieren den 6875 Meter langen Nordkaptunnel, der 212 Meter unter Meeresgrund liegt. Uns begleitet zuletzt immer wieder ein unsympathisches Motorklingeln. In Honningsvåg liegt für uns zur großen Freude im örtlichen Supermarkt ein Paket aus Deutschland. Wartburgfahrer Sven hat uns per Expresssendung mit nagelneuen Unterbrecher- und elektronischen Zündungen versorgt. Damit kriegen wir den Zweitakter hoffentlich wieder zum Schnurren. Der Zusammenhalt in der Wartburg-Community ist etwas ganz Besonderes.
Der Weg nach Russland führt uns teilweise über Finnland. Am neunten Tag mit neuer Zündung starten wir in Kirkenes. Das ist nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt. Während des Kalten Krieges war dies der einzige unmittelbare Landkontakt zwischen der NATO und der Sowjetunion innerhalb Europas. Es gibt unter den Rallyeteams unklare Informationen, was man letztendlich an Esswaren einführen darf. Auch das Personal an der norwegischen Grenzstation Storskog kann – oder darf – uns hier keine verläßliche Auskunft geben. Um unnötige Diskussionen zu vermeiden oder eine Rückfahrt nach Norwegen nicht zu provozieren, entledigen wir uns sämtlicher geöffneter Lebensmittelpackungen.
Die Abfertigung auf der russischen Seite ist zunächst etwas unübersichtlich, verläuft aber eigentlich unproblematisch. Korrekt und höflich arbeiten die russischen Zoll- und Grenzbeamten. Wir bekommen die persönlichen Migrationskarten, die ab sofort im Reisepass mitzuführen sind. Für die Fahrzeuge werden Zollerklärungen ausgefüllt, die gewährleisten, dass jeder nach Russland eingeführte PKW auch wieder ausgeführt wird. Die Fahrzeuge werden einer Sichtkontrolle unterzogen. Wir müssen den Kofferraum fast vollständig ausräumen und der Beamte kann es kaum glauben: Spare Parts, Spare Parts, Spare Parts… Nach der Sichtung der Dachboxen und des Gepäcks im Innenraum hat er offenbar irgendwann genug und wir sind nach insgesamt zwei Stunden schließlich durch.
Wahnsinn! Wir sind in Russland mit dem Wartburg und können es kaum realisieren! In drei Stunden werden wir Murmansk erreichen. Bei Rosneft bekommt die grüne Biene erst mal was zu trinken und wir wundern uns, dass es im Shop die quadratisch-praktische Schokolade aus Waldenbuch in ziemlich allen Sorten gibt. Schneereste und militärische Bauten und Monumente säumen den Weg. Die Hafenbesichtigung in Murmansk steht auf der To-Do-Liste des Roadbooks. Vor der Lenin, dem – mit drei Kernreaktoren ausgerüsteten – ersten Atomeisbrecher der Welt machen wir ein obligatorisches Erinnerungsfoto. Von jetzt an geht es Richtung Süden. Unser nächstes großes Ziel ist das 1350 km entfernte St. Petersburg. Die Tagesetappe endet in einem Motel irgendwo bei Kandalaksha mitten im Wald. Da gibt es jede Menge aggressive Mücken und einen Skilift. Und sonst nichts.
Der Folgetag startet in strömendem Regen mit überfluteten Strassen und mit Frischkäse gefüllten Eierkuchen von der Tankstelle. Unsere Rallyegruppe entschliesst sich im Laufe des Tages, nach St. Petersburg durchzufahren und sich somit einen autofreien Tag in der zweitgrößten Stadt Russlands zu gönnen. Fahren, tanken, fahren, tanken,…. Sieht man von Bahnübergängen mit unkalkulierbar hoch herausragenden Schienen ab, ist die Beschaffenheit der Strassen in Russland übrigens unerwartet gut. Die russischen Autofahrer haben grundsätzlich ein robustes Verhältnis zu Verkehrsregeln und den Rechten anderer, aber eine besondere Aufmerksamkeit ist doch stets geboten. Überholen wird denn auch immer wieder gerne zu einem unerforschlichen Akt. Auf die Frage, warum man nicht auf einer geraden, langen Strecke ohne Gegenverkehr an einem gemächlich knatternden Wartburg vorbeizieht, sondern genau dann, wenn die entgegenkommenden Autos schon greifbar nahe sind, haben wir während unserer Reise allerdings noch keine Antwort gefunden…
Nach 1098 Kilometer kommen wir gegen 23 Uhr in St. Petersburg an. Der Wartburg darf nun einen Tag Pause machen, während seine Piloten die Stadt erkunden. Die Folgetage führen die Rallyeteilnehmer ins Baltikum. Für die Ausreise nach Estland stehen wir in Iwangorod drei Stunden. In Raudsilla im Lahemaa National Park heisst es dann „Baltic States Party Time“, die Teilnehmer treffen sich zum zweiten großen gemeinsamen Feiern bei leckeren Speisen und Bier, bei Sauna und Musik. Das Fest geht bis tief in den Morgen…
Irgendwie haben wir vergessen, bei Petrus rechtzeitig Sonnenschein zu bestellen. Dauerregen soll uns für den Rest der Tour begleiten. Nach Stopps in Lettland und Litauen wagen wir die zweite Einreise nach Russland. Von anderen Teams hören wir, dass es an der Grenze zur Oblast Kaliningrad zu Wartezeiten von bis zu sieben Stunden kommen kann – wir fahren der Grenze trotzdem entgegen. Letztendlich sollen es fünf Stunden werden. Kopfschüttelnd ob des Gepäckchaos in unserem Fahrzeuginnenraum winkt uns die Grenzerin schliesslich durch. Angesichts des heftigen Niederschlags haben wir uns kurzfristig ein Hotelzimmer in Selenogradsk reserviert. Die nächtlichen 60 Kilometer durch die tiefdunklen Waldstücke der Kurischen Nehrung – über teilweise völlig überflutete Strassen und durch zahlreiche Schlaglöcher – waren intensiv für Mann und Maschine. Der Wartburg meistert die Strecke tapfer und zuverlässig und hat sich den trockenen Tiefgaragenplatz im Hotel redlich verdient.
Bei Tageslicht erkunden wir ein wenig die Schönheit der Halbinsel. Der Wind streicht über den regennassen Sand der Kurischen Nehrung. In Kaliningrad wird der Wartburg zum begehrten Fotomotiv für Hochzeitfotos und ein unglücklicher Parkrempler hinterläßt eine böse Narbe am Fahrzeugheck… Das schlechte Wetter empfiehlt ein baldiges Weiterfahren Richtung Hamburg. Kurz vor der Grenze zu Polen werden die letzten Rubel in Kekse und Kefir umgewandelt. Wir „müssen“ heute noch nach Stettin, über 400km liegen vor uns und es ist bereits später Nachmittag. Der Wartburg läuft schlecht: Wir wechseln unterwegs Zündspulen und Benzinpumpe. Der Vergaser vereist: mit verschlossener Kühlerjalousie soll es wieder besser klappen. Dauerregen und Dunkelheit sorgen für schlechte Sicht. Wir quälen uns durch Polen. Die Akkus der Piloten und damit die Konzentration erschöpfen sich. Mit reichlich Tankstellenkaffee im Bauch erreichen wir unsere Unterkunft irgendwann in der Früh.
Halbwegs erholt starten wir in den neuen Tag. Die letzte Etappe bricht nach über zwei Wochen an. Rückkehr nach Deutschland. Müdigkeit und schlechte Laune vom Vortag sind vergessen. Hansestadt, wir kommen! Wir sind rechtzeitig am Fischmarkt und fahren unsere grüne Biene stolz durch den Zielbogen. Noch haben wir nicht realisiert, dass wir 16 Tage lang um die Ostsee gefahren sind. Und plötzlich ist alles schon wieder vorbei. Im Lauf des Abends wischen wir uns die ein oder andere Träne aus den Augen. Der Wartburg hat die Piloten sicher und heil ans Ziel gebracht. Darauf jedenfalls einen Schluck Addinol!
Von Hamburg bis Hamburg haben wir insgesamt 7794 Zweitaktkilometer zurückgelegt. Leider hatte am Morgen des Starts der Wartburgtacho seinen vorzeitigen Ruhestand beschlossen. Die täglichen Laufleistungen haben wir dann immer bei Partnerfahrzeugen, mit denen wir in der Gruppe unterwegs waren, bzw. bei Google-Maps erfragt. Mit An- und Rückfahrt nach Süddeutschland hat der Wartburg tapfere 9219 km zurückgelegt. Korrekterweise müssen davon jeweils die 144 km abgezogen werden, die wir in Schweden „Huckepack“ unterwegs waren… Für die Tour einschliesslich der Anreise nach Hamburg und Rückreise Wir haben einen Gesamtkonsum von 808,64 Litern Kraftstoff zusammengezählt. Dazu kommen noch ca. 19 Liter Zweitaktöl. Das entspricht dem Durchschnittsverbrauch von 8,9 Litern/100km. Den teuersten 95-Kraftstoff haben wir in Norwegen und Finnland getankt: 1,75 Eur/Liter. In Russland gab es den Saft für unschlagbare 58 Cent/Liter…
Die meist gefallenen Sätze im Auto waren „der Motor klingelt“, “ich muss mal“, „wo sind wir?“ oder „wo ist?“ weil mal wieder etwas im Auto gesucht wurde.
Wir haben Millionen Eindrücke gesammelt und unterwegs und in den anderen Teams viele coole Socken mit reichlich Benzin im Blut kennengelernt. Zu den besonderen Momenten gehört auch das tolle Feedback der zahlreichen Leute, die unsere Tour im Netz leidenschaftlich verfolgten. Irgendwann während der Tour hat sich ein Herr aus Sachsen bei uns gemeldet, der gerne mal nachts die Aufnahmen der Webcam am Nordkap anschaut. Als die Autos dort im Altblechstau standen, fiel ihm besonders der grüne Wartburg mit der Startnummer 26 auf dem Dach auf, woraufhin der Mann recherchierte und sich bei uns meldete.
Spätestens bei unserer erfolgreichen Aufholjagd in Schweden haben wir realisiert, dass uns diese Abenteuer-Tour so schnell nicht wieder loslassen wird. Den Baltic Sea Circle machen wir bestimmt wieder.
Wir danken unseren vielen Sponsoren und Unterstützern. Eine wunderbare Sache war unsere Charity-Aktion. Für unsere Spendenpartner – der Anna e.V. – Unterstützung krebskranker Kinder in Aichtal und der Sage Hospital e.V. – kommen sagenhafte 1212 Euro zusammen. Vielen Dank!
Die Oldtimersaison in Süddeutschland wird traditionell im März auf der Retro Classics Stuttgart eröffnet. Unser Wartburg durfte so 2018 stolz in den Frühling knattern und sich im Rallye-Outfit prominent im Foyer des Eingangs Ost präsentieren, und die beiden Piloten konnten in täglichen Konferenzen von der kultigen Altblechtour zu den Lofoten, zum Nordkap und nach Russland berichten. Vielen Dank an den Veranstalter für dieses ungewöhnliche Sponsoring und die superallerbeste Unterstützung auf der Messe! Vielen Dank an die zahlreichen interessierten Vortragsgäste!