Der Kamm des Plješivica-Gebirges an der bosnisch-kroatischen Grenze bei Bihać ist von Wolken verhüllt. Verwaiste fensterlose Häuser säumen die schmalen von kräftigen Regenschauern stückweise überfluteten Wege. Tief hängende und abgebrochene Äste blockieren die Zufahrt zu einem der am besten gehüteten Geheimnisse des ehemaligen Vielvölkerstaats Jugoslawien. Minenwarnschilder mahnen zur Vorsicht.
Sind wir hier richtig?Ja!
Weite Betonflächen werden sichtbar. Im grünlich schimmernden Fels erkennen wir spitz zulaufende – teilweise durch riesige Stahltore verschlossene – Stollenöffnungen.
Wir drücken das Gaspedal unseres Lada Samara durch und beschleunigen auf einer der drei Hauptstartbahnen der ehemaligen Flugzeugkaverne Željava. Die Pisten des damals hochgeheimen Luftwaffenstützpunkts waren lang genug, um einst ein MiG-21 Kampfflugzeug mit voller Beladung starten zu lassen, und reichen heute aus, um tonnenweise Glückshormone der Altautopiloten auszuschütten. Der Lada will allerdings nicht abheben und wir wiederholen unsere atemberaubende Gänsehautfahrt mehrmals. Was für ein unwirklicher Moment! Traumhaft im wahrsten Sinne des Wortes!
Die Daten von Europas größter Flugzeugkaverne sind beeindruckend: Sie fasste wohl bis zu 80 MiG-21, 110 Piloten sowie 1400 Luftwaffensoldaten. Der gesamte Stützpunkt erstreckte sich über 36 Quadratkilometer. Der von 1957 bis 1970 erbaute Komplex wurde 1992 von Einheiten der Jugoslawischen Volksarmee bei ihrem Rückzug mit rund 56 Tonnen Sprengstoff unbrauchbar gemacht.
Es läuft die zehnte Etappe der „Balkan Express Adventure Rally“.
Diese ist keine konventionelle Rallye oder geführte Reisetour. Es gibt zwar ein Roadbook mit gemeinsamen Stationen, die Fahrstrecke ist aber freigestellt. Nur mit Karte navigieren die Teilnehmer von Dresden durch den Südosten unseres Kontinents zum Zielpunkt in Salzburg. 170 Fahrzeuge und ihre Piloten entdecken 11 Tage lang das Herz des ehemaligen „Ostblocks“, unbekannte Gegenden, staubige Straßen, raue Gebirgszüge, unvergessliche Passstrassen, einsame Wildnis und wunderbare Küsten.
2017 ging es für im Wartburg 353 beim Baltic Sea Circle rund um die Ostsee: 7500 km in 16 Tagen, von Hamburg zum Nordkap und zurück. Das macht ganz schön süchtig. Und somit war die Zeit auch ganz schnell reif für das nächste Abenteuer. Nach dem Roadtrip ist bekanntlich vor dem Roadtrip. Unsere Teilnahme am 2018 erstmalig stattfindenden Balkan Express stand eigentlich nie ausser Frage.
Im Herbst 2017 ergänzt ein Spontankauf den „ostmobilen“ Fuhrpark. In Budapest läuft uns ein beiger 1989er Lada Samara 1300 mit geringer Laufleistung zu. Für 870 Euro gehört er uns und für kleines Geld kommt er nach Deutschland.
Ganz klar: dieser kultige Held der 80er Jahre und Allrounder aus sowjetischer Produktion wird unser Reisebegleiter für den Sommertrip. Eine große Inspektion macht ihn fit, die Poliermaschine läßt ihn wieder glänzen und eine frühsommerliche Langstreckenfahrt nach Monte Carlo stellt seine Zuverlässigkeit unter Beweis.
Auf dem Heimatmarkt in der UdSSR kam der „VAZ 2108“ 1984 als “Sputnik” (Satellit) auf den Markt, in den meisten Exportländern hieß er “Samara”. Seine Geburtsstadt Togliattigrad liegt ja bekanntlich in der Oblast Samara. Als Porsche-Entwicklung schwätzt der Lada übrigens auch schwäbisch…
Die russische Verkaufsbezeichnung ist der perfekte Teamname und wird in großen kyrillischen Lettern auf das Auto geklebt. Mit den offiziellen Startnummern und Logos sowie den Stickern unserer Sponsoren, Unterstützer und des Charitypartners sieht er richtig fesch aus. Die praktischen Bundeswehrboxen auf dem Dachgepäckträger reisten schon letztes Jahr mit um die Ostsee.
Als Warm-Up fahren wir auf eigener Achse nach Sachsen. Das große Abenteuer beginnt dann am 25. August. Ein kunterbunter Fahrzeugmix präsentiert sich bei fröhlich Sonnenschein auf dem Dresdner Altmarkt. Ganz besondere Hingucker sind Citroen Mehari, Fiat X1/9, Nissan Laurel, Reliant Scimitar, Rekord A, Wartburg 1.3 Tourist, der Baja-Käfer-Umbau oder der unkonventionell dekorierte „Männertours“-Astra der coolen Jungs aus Köln. Einige Teilnehmer sind uns wohlbekannte – offenbar nicht minder rallyesüchtige – Wiederholungstäter.
Mit unserer „historischen“ Startnummer 26 und dem „Hashtag Ladalust“ rollen wir am späten Vormittag durch den Startbogen. Elbaufwärts kilometern wir Richtung Tschechien. Tagesziel ist die Region Olmütz. Also gilt es: fahren, fahren, fahren. Die Tagesaufgabe, einen neuen Text zur Bohemian Rapsody zu kreieren und zum Besten zu geben, verkneifen wir uns unmusikalischerweise. Bei tiefer Dunkelheit erreichen wir schliesslich nach 411 km und nach einigen längeren Irrungen über kleine – bisweilen plötzlich endende – Waldwege unseren Campingplatz in Mostkovice.
Das Viererteam „Bullipanade“ aus Heilbronn ist noch wach und schlürft den Gutenachtwhisky. Wir gesellen uns zu den freundlichen Kollegen und beschliessen, am nächsten Tag ein paar Kilometer gemeinsam zu fahren. Die sympathische Truppe im kommunalorangen VW T4 wird uns für den Rest der Reise begleiten.
Mitteleuropa ächzte die vergangenen Wochen und Monate über Hitze und Trockenheit. Ausgerecht unsere erste Nacht im Zelt wird von einem kräftigen Schauer und Temperatursturz begrüßt. Na prima…!
Auch der slowakische Regen trommelt am Folgetag ununterbrochen und nicht minder stark auf das Ladadach. War da sonst noch was? Ach ja, Copilotentausch und Witzerzählen…
Budapest ist das Tagesziel. Der Lada freut sich wahrlich über sein Wiedersehen mit der ungarischen Hauptstadt und wuselt flink und fröhlich durch den dichten Stadtverkehr. Seit 1986 gibt es dort den malerischen Campingplatz auf dem Areal der ehemaligen Endstation der Strassenbahnlinie 58. Dort werden erst mal Bier und Wein auf Kosten des Hauses serviert. Anschliessend wird für uns die weltallerbeste Gulaschsuppe gekocht!
Die ungarische Puszta ist einer der bekanntesten Begriffe, wenn man an das Land denkt. Bei wieder hochsommerlichen Temperaturen durchqueren wir am dritten Tag in einem gefühlt nicht enden wollenden Ritt die Steppenlandschaft Richtung Osten und erreichen Oradea in Rumänien. Alle Teilnehmer kommen am Abend zur „Transilvanian Party“ am Castelul Bánffy bei Cluj-Napoca auf dem Gelände des berühmten Electric Castle Festival zusammen. Bei Bier, selbstgebranntem Bürgermeisterschnaps und Discosound wird in Draculas Heimat bis tief in den Morgen gefeiert.
Am vierten Tag freuen wir uns auf die Transfogarascher Hochstraße. Als spektakulärste Panoramastraße Rumäniens ist die unter Staatsoberhaupt Nicolae Ceaușescu in den 1970er Jahren erbaute Transfăgărăşan weltbekannt. Die Gebirgsstraße verbindet Siebenbürgen mit der Walachei, wobei sie das Fogarascher Gebirge überquert. Die Straße ist Teil der 151 Kilometer langen Nationalstraße DN 7C.
Uns erwarten 830 Brücken, 28 Viadukte und natürlich das Labyrinth aus engen Serpentinen und aufregenden Haarnadelkurven. Nahezu im Zickzack-Kurs geht es steil hinauf in die spektakuläre Bergwelt. Die Trasse windet sich abenteuerlich nach oben. Leitplankenbefreit kommen wir dem Himmel immer näher. Runterschalten, einlenken, Gas geben – diese Kombination geht dem Piloten nach kurzer Zeit automatisch von der Hand. Der Lada schnurrt wie eine Katze.
Je höher wir steigen, desto dichter wird der Nebel. Die Sicht ist richtig schlecht. “Die Strasse in den Wolken“ macht ihrem Namen alle Ehre. Die Fotografen fürchten schon um ihre Bildmotive…
Auf 2042 m Höhe durchqueren wir nach einem kurzen Stopp den beklemmend düsteren Balea-Tunnel. Und siehe da, die Sonne blitzt durch. Wow! Die Südseite entschädigt mit einer atemberaubenden Aussicht auf das Capra-Tal. Bei jedem der vielen Fotostopps werden wir von der Schönheit der Natur eingeholt.
Die folgenden Tage führen uns nach Bulgarien und Mazedonien. An Craiova vorbei erreichen wir bei Bechet die Donaufähre. Nach zweistündiger Wartezeit dürfen wir das wohl aus zwei alten Frachtern „zusammengebaute“ Schiff befahren. Wir sind Richtung Sofia unterwegs. Nach einem Stopp am Strassenrand hustet der Lada. Er hängt kraftlos am Gas und bekommt offenbar nicht genug Sprit. Wir entdecken einen porösen Benzinschlauch und ersetzen bei der Gelegenheit auch die Benzinpumpe. Das Problem hält leider an. Bernd und Steven von den uns begleitenden Teams säubern erfolgreich den Vergaser. Armdrücken mit bulgarischen Truckern sind die Tagesaufgaben.
Die sechste Etappe bringt uns nach Albanien. „Camping Rei“ am herrlichen Ohrid-See ist nach 470 km das Tagesziel. Wir bauen unsere Zelte auf, entfernen noch mal schnell den Grat am Flansch der neuen Benzinpumpe, der zu etwas Ölkleckern führte, und geniessen einen wunderbaren Sonnenuntergang bei gegrilltem Fisch aus dem See und kühlem Bier.
Albanien ist das Land mit der höchsten Mercedes-Dichte überhaupt. Bruno Sacco’s Kreationen machen gefühlt Dreiviertel der Verkehrsbildes aus. Die alten Schätze sind gut gepflegt, poliert und rollen unermüdlich über die – großteils richtig gut ausgebauten – Landstrassen. Nach Elbasan nehmen wir am siebten Tag die alte SH3 Richtung Tirana und erleben eine weitere traumhafte Passstraße.
Das zweite große Zusammenkommen der Teilnehmer erwartet uns am nördlichen Skadar See in Montenegro. Eine Stunde abenteuerliche Kurvenpiste führt uns zur „Black Mountains Party“ in idyllische Lage. Ein leckeres montenegrinisches BBQ Buffet, coole Partymusik und allerbeste Stimmung sorgen für den perfekten Rallyeabend…
In Kroatien sind das Dinarische Gebirge und die adriatische Küstenregion unsere Ziele. Wir erkunden die berühmten Wasserfälle im Krka Nationalpark und setzen unseren Samara vor der verlassenen Aluminiumfabrik bei Lozovac in Szene.
Die letzte Etappe führt uns vom slowenischen Bled zum Zieleinlauf in Österreich. Bereits gegen Ende der 547 km langen Vortagesstrecke litt der Lada etwas unter Leistungsverlust und rußte bisweilen kräftig aus dem Endrohr. Wir wollen so unser Auto nicht nach Salzburg quälen. Der Blick in den Vergaser ist geboten.
Die Düsen sind sauber. Doch der Samara bleibt völlig kraftlos. Auch die aus einer naheliegenden Werkstatt herbeigeholte professionelle Unterstützung ist ohne Erfolg, so dass wir letztendlich entscheiden, einfach den werksneuen Vergaser aus unseren Ersatzteilkisten im Kofferraum auszupacken
und zu montieren. Gesagt, getan und unser Russenflitzer ist wieder fit. Salzburg, wir kommen! Die letzten 380 km werden gemeistert und wir fahren stolz und planmäßig unseren Lada durch den Zielbogen vor dem Casino. Na starovje, Samara!
In elf Tagen waren wir 4320 km in Südosteuropa unterwegs. Mit An- und Rückreise nach Stuttgart kamen 5240 km zusammen. Der Lada verbrauchte im Schnitt 7,8 Liter auf 100 km und gute zwei Liter Motoröl.
Der nächste Abenteuertrip ist beschlossene Sache.